Vor meinem Haus steht eine Linde.
Sehr zum Verdruss sämtlicher Autoinhaber. Denn diese Linde blüht und duftet und etwas später im Jahr fressen Blattläuse ein paar ihrer Blätter und produzieren dann klebriges Zeugs, was sich klangvoll Honigtau nennt.
Was aber eigentlich Läusepisse ist.
Seit ich hier wohne blüht diese Linde.
Und dieser ganz spezielle Duft findet sich überall in der Stadt wieder.
Manchmal früher sind meine große Schwester und ich ins Kino gegangen, wir haben uns unsere langen Kleider angezogen und sie hat manchmal ihre Wimperntusche hervorgeholt oder sogar ihre Lippen rot angemalt. Mit Lippenstift von Mama.
Teuer und dekadent und aufregend – Kino. Etwas wo man Zigarettenspitzen benutzt und Handschuhe anzieht, passend zum roten Pelzmantel und dem Cabriolet.
Wir haben stattdessen unsere Fahrräder aus dem Keller geholt und sind zwischen den Häusern durch, auf die große Straße gefahren. Tickets für die Bahn waren zu teuer, und sie hatte Angst beim Schwarzfahren erwischt zu werden, ich sah das immer etwas lockerer.
Dann sind wir erstmal eine Weile geradelt.
An der Kirche vorbei, an den Saufbars, an den Kifferwiesen vorbei, vorbei an riesigen Supermärkten und kleinen Cafés mit Klappstühlen oder Sesseln draußen.
Immer neben uns die unendlich lange Schlange der duftenden Linden in Reih und Glied ordentlich nebeneinander. Die Schnelligkeit und Herzenswärme, die Möglichkeiten und Gefahren, die schwüle Luft und der Dreck.
All das haben wir gespürt auf dem Fahrrad, während wir so schnell es ging auf unseren Cabrios für Anfänger die Straße entlangheizten.
Im Kino wartete dann der Teppich, der selbst High heels leise und elegant dämpfte. Popcornkessel. Sie musste immer die Karten kaufen, weil ich noch nicht alt genug war und Angst hatte, dass die Menschen hinter den Glasscheiben mir keine verkaufen würden. Wenn sie sich nicht sicher waren, wie alt man war, fragten sie einen, in welchem Jahr man geboren wurde. Das ahnte ich natürlich.
Also hatte ich mir vorher schon zurechtgelegt, wie alt ich sein musste. Leise vor mich hin murmelnd, wann ich geboren wurde trippelte ich näher an den Tresen heran und sagte, was ich haben wollte.
Skeptisch.
Nicken.
Seufzen. Wie alt bist du?
… … 16?
… Geburtsjahr?
Atmen-atmen.
Natürlich hab ichs vergessen.
Jedes mal war ich nicht glaubwürdig genug.
Also musste meine Schwester die Karten kaufen. Und ich verstecke die Chipstüte in meiner Tasche oder gehe, wenn wir extra viel Geld mit haben, Popcorn kaufen.
Und wir konnten in den Film für 16-Jährige gehen mit Blut und Geballer und niedlichen Tieren.
Als wir älter wurden, hatten wir manchmal genug Geld um mit der Straßenbahn hinzufahren. Das war dann purer Luxus. Nach dem Film sind wir den Plattenweg zurückgelaufen und haben mit einem Verteiler Musik gehört und dazu getanzt, auch wenn niemand sonst die Musik hören konnte. War doch egal. Wir haben unser Rest-Popcorn gegessen, uns Cola gekauft und die Luft dieser Stadt geatmet, in der man 24/7 Party machen kann und Döner isst und ins Kino geht. Diese Stadt mit den Linden. Mit diesem Kino.
Der Geruch der Linden, dieses süße warme schmeicheln gehört genauso zu meinem Zuhause wie der Kastanienbaum im Hinterhof.
Der blüht auch gerade, aber er duftet nicht so sehr.
Unter ihm haben wir Bierdeckel zerstampft. In Großproduktion.
Aber das ist eine andere Geschichte, und soll ein andermal erzählt werden.